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Wilder Urlaub
#1
„Kauf dir ein paar neue Wanderschuhe, wenn deine alten Schuhe schon so kaputt sind - ich gebe dir auch das Geld.“, sagte meine Mutter zu mir und blickte mir mit ermunternder Miene in die Augen. Meine jahrelangen Jagden über Stock und Stein, bei Regen, Wind und Schnee sowie Aushilfen im Gelände um etwas zum Taschengeld dazuzuverdienen, führten zur raschen Abnutzung meiner braunen Jack Wolfskin-Halbstiefel mit den orangenen Applikationen, die den Stiefeln ein abenteuerliches Aussehen verliehen, das für die Wildlinge vorbehalten war. Die Geste meiner Mutter erwiderte ich nach kurzem überlegen, ob ich das Geld annehmen sollte, mit einem „okay“ und ging noch am selben Tag in ein Geschäft, wo mir ein Händler neue passende Schuhe für Unternehmungen in den Bergen präsentierte. Die farbenfrohen Jungenschuhe setzten sich aus einem schwarzen und blauen Außenstoff und einem hellgrünen Innenstoff mit gleichfarbigen Schnürsenkeln zusammen. Die Halbstiefel wirkten robust, waren wasserdicht, griffig, leicht und flexibel, letzteres veranschaulicht durch Dehnungsbewegungen des Verkäufers mit seinen Händen an meinem künftigen Schuh. Natürlich wurden die Markenschuhe noch im Fachhandel anprobiert und sie passten super, sodass ich sie zu einem vergleichsweise günstigen Preis im Verhältnis zu den großen Schuhen mitnehmen konnte. Mit der Gewissheit des Besitzes und der Unkenntnis über die bevorstehenden Belastungen der neuen Schuhe durch andere, konnte der Urlaub nun beginnen.
Es ging mit Fremden auf einen Campingplatz in die Berge, wo zahlreiche Freizeitaktivitäten auf mich und meine neu gewonnenen Freunde vom Kikaninchenalter über Lego Ninjago-Alter bis zum Alter der einsetzenden Trägheit warteten. Die Belastungen an meinen frischen Schuhen setzten schon am ersten Tag durch das Kikaninchenalter ein. Am Nachmittag saßen wir aktivitäts- und lautstärkebedingt getrennt von den Eltern, die gerade das Abendessen für uns vorbereiteten, in einer eigenen Unterkunft quer auf den Betten und spielten gegeneinander auf Spielekonsolen. Das Kikaninchenalter wollte zusehen. Die kurzen Beine baumelten mit kleinen rosanen Halbschuhen in der Luft. Ratsch…ratsch…ratsch…ratsch ertönte es immer wieder rhythmisch über lange Zeit. Ratsch…ratsch…ratsch…ratsch… „Ja, ein Stern, ich überhole dich, ging es mir durch den Kopf.“ „Schon wieder gewonnen, ätschbätsch!“, rief ich nach der Zieleinfahrt im Spiel. Ratsch…ratsch…ratsch…ratsch… Wir zockten noch ein paar Runden, bis ich wahrnahm, wie etwas rauhes über meinen angezogenen Schuh streifte und dabei meinen abschließenden und anliegenden grauen Sockenbund Stück für Stück nach unten bewegte. Ich guckte kurz nach vorne und erblickte rot-weiß gestreifte Söckchen, die neben schwarz-grau gestreiften Socken baumelten und die aus den rosanen Schuhen mit den zwei Klettverschlüssen herausstanden sowie den langen Schlaufen vorne und hinten und der griffigen Gummisohle des Kikaninchenalters, das mit der Bewegung der Beine über meinen höhenbedingt angewinkelten Schuh ratschten. „Hah, dieses mal gewinne ich!“, rief der Freund. „Oh nein!“, rief ich und konzentrierte mich auf das Spiel. Ratsch…ratsch…ratsch…ratsch… „Kommt rüber essen und zieht eure Schuhe aus.“, forderte uns eine Mutter auf. Hungrig vom anstrengenden Tag stürmten wir rüber und zwischen den nebeineinanderliegenden Hütten flogen die Schuhe umher. Das Kikaninchenalter hatte die kleinen Schuhe mit bestimmten und zügigen Klettverschlusslauten vor der Tür ausziehen lassen. Vorbildlich. Und doch bestraft. Am nächsten Tag suchte ich meine Schuhe. Ich fand sie wieder – ganz unten an einem Schuhhaufen neben den Kikaninchenschuhen, der offenbar von den Eltern durch Werfen der Schuhe zu einem Haufen willkürlich gebildet wurde. Ich leerte meine Schuhe vor dem Anziehen erst einmal von Steinen und Dreck, der plötzlich in meinen Schuhen lag. An den folgenden Tagen wurde viel geklettert, gewandert, gesprungen, balanciert, es wurden Steine gekullert, Bäche passiert, Spitze Felsen erklommen und noch viel mehr. Alle machten mit, alle waren entspannt und freudig dabei.
Eines Abends saßen das Lego-Ninjago-Alter und ich zusammen auf frei stehenden Stühlen und langweilten uns, während die anderen erschöpft umherwandelten. Meine warmen Schuhe lagen ausgezogen neben mir. Das Lego-Ninjago-Alter sah nach unten und streckte ein wenig seine Beine. Wie ein Krebs griff es sich scherenartig mit seinen weiß-schwarzen Kinderschuhen einzeln meine Schuhe und zog sie vor sich auf die Wiese. Es betrachtete meine bunten Schuhe, indem es sie mit seinen Schuhen umklammert wendete. Das Lego-Ninjago-Alter richtete meine Schuhe wieder auf und fing unerwarteterweise aber zum Glück nur kurz an seine Sohlen seitlich an meinem blauen Stoff abzureiben. Dann verlagerte es das Gewicht nach vorne und drückte mit seinem Schuh meine Zunge nach unten und fragte mich, welche Größe ich hätte. Ich antwortete. Zur Verwunderung stellten wir fest, dass wir fast die selbe Größe hatten, weshalb wir in Langweile beschlossen die Schuhe zum Spaß zu tauschen. Ich zog seine etwas kleineren Schuhe an und es zog begeistert meine Schuhe an. Das Lego-Ninjago-Alter war neugierig und möglicherweise etwas von den schönen bunten Schuhen ergriffen. Kurz danach näherte sich uns ein Vater und fragte uns, ob wir mit seinen mitgebrachten schnellen und geländegängigen RC-Cars fahren möchten. Er händigte uns die Autos und die Fernsteuerungen aus und wir liefen zum nächstgelegenen größeren Platz, wo wir die Autos über einen Parkplatz fahren ließen. Doch auch hier bedurfte es ein paar Optimierungen an der Situation, wir lieferten uns Verfolgungsjagden mit den Autos und zu Fuß. Mit meinen Schuhen ließ es sich offenbar genau so gut laufen wie ich mit seinen Schuhen laufen konnte. Noch nicht genug Ideen eingebracht, machte das Lego-Ninjago-Alter den Vorschlag, dass wir uns mit Autos überfahren. „Warum nicht.“, dachte ich mir und so legte sich immer einer auf den vom Regen nassen Boden, während der andere den Wagen mehrmals über verschiedene Stellen der Jacke und der Hose fahren ließ. Da wir noch nicht so voluminös waren, konnten die Fahrzeuge ohne größere Schwierigkeiten über uns fahren, was uns stets zum Lachen brachte. Die Dunkelheit verhinderte zum Glück in der Nacht die Reifenspuren auf unseren hellen Jacken und Hosen, verhinderte aber nicht die Konsequenzen. Als ob das noch nicht reichte, beschlossen wir meinen gut sichtbaren Schuh, der das Licht der Laternen reflektierte, an den Wagen dranzuhängen, wenn das Lego-Ninjago-Alter dafür in Socken rumrennt. So ließ das Lego-Ninjago-Alter meinen Schuh schleifend über den nassen Parkplatz flitzen und das Gelände erkunden. Über den Asphalt und durch die Pfützen verlief die Route auch mal kurvig, was den Schuh drehen ließ, wodurch eine andere Seite über den Boden gleitete. Ich ließ das Lego-Ninjago-Alter im Gegenzug mit Socken rumrennen, bis die bunten Socken nass waren und am Boden klebten. Etwas dreckig und nass kehrten wir in der Nacht ziemlich überdreht aber mit einem unbegrenzten Maß an Freude in die Unterkunft zurück. Die Unternehmungen ließen mich noch lange Spaß empfinden.
Nach dieser vielschichtigen Geschichte betrachte ich meine Schuhe, die Nähte sind heil, die Farben etwas verstaubt, Verfärbungen, Kratzer und kleine Ritze zeichnen die Abenteuer und den Freigeist an den Schuhen. Ob weitere Kratzer folgen werden?
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