Die gerissene Naht

[IvyMike]

Hallo zusammen,

für zwischendurch mal wieder eine Kurzgeschichte. Bilder reich' ich bei Gelegenheit nach 

Nina rutschte auf dem Stuhl des Wartezimmers hin und her.
So sehr sie sich mühte, sie fand keine bequeme Sitzposition.
Weder aufrecht, wie sie sich zu Beginn hingesetzt hatte, 
noch beinahe quer zur Sitzfläche gelümmelt, noch zurückgelehnt, mit überschlagenen Beinen.
Sie setzte sich wieder etwas aufrechter hin und kreuzte ihre Beine unter dem Stuhl, 
die Fußspitzen senkrecht auf den Boden abgestützt.
Doch auch so war es einfach nicht bequem.

Als Nina ihre Füße aus der Verschränkung löste und wieder vor dem Stuhl abstellen wollte, 
blieb sie mit dem rechten Schuh am Stuhlbein hängen.
Der schnell nachgebende Widerstand und ein leises "raatsch" verhießen nichts Gutes.
Aufgeschreckt durch dieses Mißgeschick beugte Nina sich nach vorne und betrachtete ihren Schuh.



Der Schaden wurde gleich offenbar:
Von der Spitze aus war die seitliche Naht gut und gern drei Zentimeter aufgerissen.
Zwischen Leder und Zierstreifen klaffte ein merklicher Spalt.
Nina beugte sich nach vorne um mit der Hand hinfassen zu können.
Das war keine gute Idee: Sobald sie sich beugte, knickte auch ihr Fuß und brachte zusätzliche Spannung auf die gerissene Naht.
Wieder machte es leise "raatsch" und der Faden gab weitere ein bis zwei Zentimeter nach.

"Ach Mist", dachte Nina, die sich verärgert wieder zurücklehnte um nicht noch mehr Blicke der anderen auf sich zu ziehen.
Es war ihr beinahe peinlich.
Der dünkelhafte Gesichtsausdruck der älteren Dame gegenüber schien ihr zu sagen "Nicht mal anständige Schuhe tragen die Mädchen heutzutage."



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Die Treppenstufen bis zur Wohnung gaben der Naht den Rest:
Nun war sie bis zum kleinen Zeh aufgerissen.
Genervt, aber nun doch irgendwie erleichtert, angekommen zu sein, schloss Nina die Wohnungstüre auf.
"Hallo Mama!" rief sie in den Flur.
Einen Augenblick später blickte ihre Mutter Elke aus der Küchentür und hieß sie mit ihrer sanften Stimme willkommen: "Hallo Nina. Wie lief's denn beim Zahnarzt?"

Zwiegespalten antwortete Nina: "Eigentlich gut. Meine Zähne sind tip-top, wie immer. 
Bloß die Warterei war doof. Und dabei hab' ich mir auch noch 'n Schuh kaputt gemacht."
Verwundert schaute die Mutter auf die Schuhe ihrer Tochter, die sie sich gerade von den Füßen streifte.
- "Wo denn? Auf den ersten Blick sehen die aus wie immer."
Nina reichte ihrer Mutter den rechten Schuh und deutete auf die Naht.
"Hier. Da bin ich am Stuhlbein hängengeblieben und hab' mir die Naht aufgerissen."

Elke sah sich die Stelle an und bog mit dem Daumen prüfend den Zierstreifen nach unten.
So "nachgeholfen" sah der Schaden gleich nochmals schlimmer aus.
- "Oh ja, das sieht nicht gut aus."
Nina fragte hoffnungsvoll: "Meinst Du, das kann man nochmal nähen?"
Elke zog eine sehr skeptische Miene: "Das muss ich mir mal in besserem Licht anschauen."

Sie ging in die Küche und knipste das Licht für die Arbeitsflächen an.
Im Vorbeigehen riss sie ein Stück Küchenkrepp ab, legte es auf die Arbeitsplatte und stellte den Schuh darauf.
Elke drehte den Schuh ins Licht und betrachtete sich die gerissene Naht näher.
Sie versuchte die auseinanderklaffenden Teile wieder zusammenzuschieben, was ihr nur leidlich gelang.
Als sie aber die ausgerissenen Stiche der Naht sah, hörte Elke auf, den Schaden weiter zu begutachten.
Ihr Urteil stand fest.



Sie richtete sich auf und verzog die Mundwinkel: "Da kann ich nicht mehr viel retten.
An dem Streifen sind die Stiche ausgerissen und da ist nicht mehr genug Platz, das weiter zusammenzuraffen.
Das würde mindestens schlecht gemacht aussehen; wahrscheinlich würde das sogar die Passform verändern."
Nina, die ihre Mutter aufmerksam beobachtet hatte, ließ die Schultern hängen.

Elke nahm den Schuh in die Hand und prüfte die Sohle und den allgemeinen Zustand.
An Ballen und Ferse war das Profil fast vollständig abgelaufen, 
das Obermaterial war vom vielen Tragen merklich verformt und die schimmernde Beschichtung bekam teilweise Risse.
Elke wiegte den Kopf und sagte tröstend zu ihrer Tochter: "Da wär's eh so langsam Zeit für Neue geworden."
Schmunzelnd fügte sie hinzu: "Vielleicht wollten Dir Deine Schuhe ein Zeichen geben, dass sie in den verdienten Ruhestand wollen."



Nina nahm das Urteil resigniert auf.
Es tat ihr sehr leid um ihre alten Schuhe, aber ihre Mutter hatte wohl Recht - da war nicht mehr viel zu retten.
Nur ein "Schade" brachte sie als Antwort über die Lippen.
Elke nahm den Schuh von der Arbeitsplatte und wendete sich Nina zu:
"Ja, wirklich schade, dass die jetzt kaputt sind, die hast Du ja gern getragen. 
Aber wie wär's: Wir gehen nachher am besten gleich noch in die Stadt und Du suchst Dir ein paar Neue aus."
-"Gerne, Mama."

Sie hielt den Schuh hoch und fragte erst wohlwollend "Möchtest Du sie noch ein Weilchen behalten?" 
...und dann vorsichtig: "Oder darf ich kurzen Prozess mit ihnen machen?"
Nina zögerte.
Es tat ihr in der Seele weh, das Todesurteil über ihre Schuhe zu sprechen, aber ein Aufschub hätte auch nichts genutzt.
Nina schüttelte nur den Kopf, was Elke als Antwort genügte:
"In Ordnung."
Elke streckte ihrer Tochter den Schuh dennoch hin und bat sie:
"Stellst Du den dann bitte, zusammen mit dem anderen, an die Wohnungstür?
Ich trag' sowieso gleich die Küchenabfälle zur Müllpresse runter. 

Da pack' ich Deine Turnschuhe dazu und lass sie auch mit einstampfen."